Leitfaden zur Beantragung eines Pflegegrades
Die Beantragung eines Pflegegrades (PG 1 bis PG 5) ist ein wichtiger Schritt, um finanzielle Unterstützung und Leistungen für die häusliche Pflege zu erhalten. Seit der Pflegereform 2017 liegt der Fokus nicht mehr auf dem reinen zeitlichen Pflegeaufwand, sondern auf dem Grad der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit.
🛑 Wichtiger Hinweis zur Diagnose (Autismus, PDA)
Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder Pathologische Demand Avoidance (PDA) führt nicht automatisch zu einem Pflegegrad.
Entscheidend ist nicht die Art der Erkrankung, sondern der tatsächliche Unterstützungsbedarf im Alltag und wie stark die Selbstständigkeit in den sechs relevanten Lebensbereichen eingeschränkt ist.
📝 Was bedeutet das konkret?
Ein Pflegegrad wird anerkannt, wenn aufgrund der Beeinträchtigung (seien es kognitive, kommunikative oder emotionale Einschränkungen) Hilfe bei alltäglichen Verrichtungen benötigt wird, die gesunde, gleichaltrige Kinder selbstständig durchführen könnten.
Beispiele, die relevant sind:
Kognitive und kommunikative Einschränkungen: Ständige Beaufsichtigung und Anleitung (z.B. bei der Körperpflege, Anziehen) aufgrund von Orientierungsproblemen oder fehlender Gefahreneinschätzung.
Verhaltensauffälligkeiten: Notwendigkeit der ständigen Anwesenheit zur Abwehr von Eigen- oder Fremdgefährdung (relevant bei Meltdowns oder starker Impulsivität).
💰 Vorteile und Leistungen eines Pflegegrades
Ein anerkannter Pflegegrad ist die Grundlage für verschiedene finanzielle Leistungen, die direkt oder indirekt zur Entlastung der pflegenden Familie dienen.
1. Pflegegeld und Pflegesachleistungen
Die zwei häufigsten Leistungen sind das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen:
Pflegegeld: Dies ist ein monatlicher Betrag zur freien Verfügung, wenn die Pflege privat durch Angehörige oder Freunde sichergestellt wird. Es dient als finanzielle Anerkennung der geleisteten privaten Pflegearbeit.
Pflegesachleistungen: Dies ist ein monatliches Budget für die Inanspruchnahme professioneller Pflegedienste (z.B. für Grundpflege oder hauswirtschaftliche Hilfen).
Kombinationsleistung: Man kann beide Leistungen kombinieren, indem man einen Teil der Sachleistungen in Anspruch nimmt und das verbleibende Pflegegeld anteilig erhält.
2. Entlastungsbetrag
Ein monatlicher Betrag von 125 Euro (zweckgebunden). Kann genutzt werden für:Tagespflege oder Nachtpflege. Betreuungs- und Entlastungsangebote (z.B. Autismusspezifische Betreuungsdienste, stundenweise Begleitung).
3. Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege
Diese Leistungen dienen der Absicherung der Hauptpflegeperson bei Ausfall:
Verhinderungspflege (ab PG 2): Fällt die Hauptpflegeperson wegen Krankheit, Urlaub oder aus anderen Gründen aus, übernimmt die Pflegekasse die Kosten für eine Ersatzpflege (bis zu 1.612 Euro pro Jahr).
Kurzzeitpflege (ab PG 2): Finanzierung einer vorübergehenden, vollstationären Pflege in einer geeigneten Einrichtung (bis zu 1.774 Euro pro Jahr), oft genutzt nach Krankenhausaufenthalten oder in akuten Krisensituationen.
4. Rentenversicherungsbeiträge für die Pflegeperson
Ein ganz entscheidender Vorteil des anerkannten Pflegegrades ist die soziale Absicherung der pflegenden Hauptperson – oft ein Elternteil.
Wenn Du Dein Kind mit einem Pflegegrad mindestens 10 Stunden pro Woche (verteilt auf mindestens zwei Tage) pflegst und keine volle Erwerbstätigkeit ausübst (nicht mehr als 30 Stunden pro Woche arbeitest), zahlt die Pflegekasse Beiträge zur Rentenversicherung für Dich.
Die Vorteile der Beitragszahlung:
Rentenerwerb:
Die Pflegezeit wird als Beitragszeit bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) angerechnet. Dies verhindert oder mindert Rentenlücken, die durch die Reduzierung oder Aufgabe der Berufstätigkeit entstehen.
Rentenanspruch:
Deine späteren Rentenansprüche steigen entsprechend der Höhe und Dauer der Pflegeleistung.
Voraussetzung:
Die Pflege muss im häuslichen Umfeld erfolgen.Es muss ein anerkannter Pflegegrad (PG 2 bis PG 5) vorliegen. (Bei PG 1 werden keine Rentenbeiträge gezahlt.)Du musst der Pflegekasse als Pflegeperson benannt werden.
1. Schritt: Den Antrag stellen
Der Antrag muss bei der zuständigen Pflegekasse der pflegebedürftigen Person eingereicht werden.
📞 Ansprechpartner
Die Pflegekasse ist in der Regel bei der Krankenkasse angesiedelt, bei der das Kind oder der Erwachsene versichert ist.
Ablauf: Ein formloser Antrag genügt zunächst. Ein einfacher Satz wie "Hiermit beantrage ich für [Name des Kindes/Erwachsenen], versichert bei der [Krankenkasse], die Feststellung eines Pflegegrades." reicht aus.
Einreichung: Der Antrag kann per Post, E-Mail oder oft telefonisch gestellt werden.
⏰ Fristen
Die Pflegekasse muss den Antrag in der Regel innerhalb von 25 Arbeitstagen bearbeiten. Bei Überschreitung dieser Frist ohne triftigen Grund muss die Kasse eine Entschädigung zahlen.
2. Schritt: Vorbereitung auf die Begutachtung
Nach Eingang des Antrags beauftragt die Pflegekasse den Medizinischen Dienst (MD), um die Begutachtung durchzuführen.
📑 Wichtige Dokumente sammeln
Sammle alle Unterlagen, die den Unterstützungsbedarf belegen. Hier liegt die größte Chance für Eltern von Kindern mit ASS/PDA:
Ärztliche/Psychiatrische Berichte: Befunde von KJP, Neurologen, oder SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum).
Diagnoseberichte: Berichte der Autismus-Diagnostik (ADOS-2, ADI-R), falls vorhanden.
Therapieberichte: Berichte von Ergotherapie, Logopädie oder der Autismus-Therapie.
Schulberichte/Integrationshilfe: Berichte, die den Betreuungsaufwand im Schulalltag schildern.
Das Pflegetagebuch: Dies ist das wichtigste Dokument!
✍️ Das Pflegetagebuch führen
Das Pflegetagebuch ist das wichtigste Dokument für die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst (MD). Es dient dazu, den tatsächlichen Unterstützungsbedarf lückenlos und nachvollziehbar zu dokumentieren. Führe das Tagebuch detailliert über mindestens zwei Wochen.
Der zentrale Punkt dabei ist der Vergleich: Du musst festhalten, welche Hilfe Dein Kind benötigt, im direkten Vergleich zu einem gesunden, gleichaltrigen Kind, das diese Verrichtungen selbstständig erledigen würde.
Was Du dokumentieren musst:
Dauer und Häufigkeit: Beschreibe nicht nur, was passiert ist, sondern wie oft und wie lange die Hilfe dauerte (z.B. "Beim Anziehen sind 20 Minuten ständige verbale Anleitung nötig").
Art der Hilfe: Gehe auf die Qualität der Hilfe ein. Dies ist bei kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen besonders wichtig. Beispiele hierfür sind:Beaufsichtigung: Ständige Anwesenheit zur Gefahrenabwehr (z.B. beim Essen, im Straßenverkehr oder bei selbstverletzendem Verhalten/Meltdowns).Anleitung: Verbale Anweisungen, Erinnerungen oder das Vormachen von Schritten bei komplexen Handlungen (relevant für defizitäre exekutive Funktionen).Motivation: Ständiges Überwinden von Verweigerung (relevant für PDA), um notwendige Handlungen wie Körperpflege oder Essensaufnahme zu gewährleisten.
Sensorische Probleme: Dokumentiere, welche sensorischen Probleme die Selbstständigkeit verhindern (z.B. "Das Kind kann sich nicht selbst die Zähne putzen, weil es die Textur der Zahnpasta ablehnt und ich es physisch unterstützen muss").
Nächtliche Unruhe: Halte fest, wie oft Du nachts geweckt wirst oder wie lange Du zur Beruhigung oder Beaufsichtigung anwesend sein musst, da dies das Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) stark gewichtet.
Ziel:
Das Tagebuch muss dem Gutachter unmissverständlich vermitteln, dass die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit so gravierend ist, dass die Pflegeperson in dem Maße unverzichtbar ist, wie es bei einem gesunden Kind nicht der Fall wäre.
3. Schritt: Die Begutachtung durch den MD
Der MD (oder Medicproof bei Privatversicherten) kommt zur Begutachtung meist in die häusliche Umgebung.
🗣️ Das Gespräch
Das Gespräch ist entscheidend. Es ist wichtig, nicht zu verharmlosen, sondern dem Gutachter konkrete Beispiele zu liefern, wie der Unterstützungsbedarf im Alltag aussieht. Nutze dabei die Einträge aus Deinem Pflegetagebuch als Grundlage. Zeige dem Gutachter nicht nur, was das Kind kann, sondern vor allem, wie viel Anleitung, Beaufsichtigung oder physische Hilfe es benötigt, um die Handlung durchzuführen.
Der Gutachter arbeitet dabei die sechs Module des Neuen Begutachtungsassessments (NBA) ab. Diese Module bewerten die verbliebene Selbstständigkeit. Für Kinder mit ASS/PDA sind die Module 2 und 3 besonders relevant:
Modul 2 (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten): Hier geht es um die Orientierung in Zeit und Raum, die Fähigkeit zur Gefahrenerkennung und das Verstehen von Informationen. Bei Autismus und PDA liegt hier oft eine starke Beeinträchtigung vor, da Kinder Gefahren falsch einschätzen oder verbale Anweisungen nur schwer verarbeiten können.
Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen): Dieses Modul ist für Verhaltensweisen wie Meltdowns, Aggression, nächtliche Unruhe oder die Angst-gesteuerte Vermeidung (PDA) von zentraler Bedeutung. Hier wird die Notwendigkeit der ständigen Beaufsichtigung zur Abwehr von Eigen- oder Fremdgefährdung stark gewichtet.
📊 Die Bewertung
Die Punkte aus den sechs Modulen werden addiert, um den Pflegegrad zu ermitteln:
PG 1: 12,5 bis unter 27 Punkte (Geringe Beeinträchtigung)
PG 2: 27 bis unter 47,5 Punkte (Erhebliche Beeinträchtigung)
PG 3: 47,5 bis unter 70 Punkte (Schwere Beeinträchtigung)
PG 4: 70 bis unter 90 Punkte (Schwerste Beeinträchtigung)
PG 5: 90 bis 100 Punkte (Schwerste Beeinträchtigung mit besonderen Anforderungen)
🤝 Eure Unterstützung und unser wichtiger Hinweis
Der Weg zum Pflegegrad kann emotional und administrativ herausfordernd sein. Wir möchten Euch auf diesem Weg nicht allein lassen.
Wir stehen Euch gerne unterstützend zur Verfügung bei allgemeinen Fragen rund um die Dokumentation, das Pflegetagebuch und die Vorbereitung auf den MD-Termin. Wir teilen unsere Erfahrungen und geben Euch Hinweise, welche Aspekte des Autismus-Spektrums in der Begutachtung besonders relevant sind.
⚠️ Wichtiger Hinweis zur Rechtsberatung
Bitte beachtet, dass die hier bereitgestellten Informationen allgemeiner Natur sind und wir keine Rechtsberatung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes anbieten können.
Unsere Unterstützung ersetzt keine formelle juristische Beratung durch einen Fachanwalt für Sozialrecht, die unabhängige Patientenberatung oder die offiziellen Beratungsstellen Eurer Pflegekasse. Bei spezifischen juristischen Fragen oder der Formulierung eines formalen Widerspruchs wendet Euch bitte immer an diese autorisierten Stellen.
